GeoGebra im Regenbogen
 

 Abheben von Brücken

Eigentlich geht es im Nachfolgenden um eine Physik-Aufgabe, aber natürlich ist die Physik nichts anderes als ein wunderbares Anwendungsgebiet für die herrlichen Werkzeuge der Mathematik!
Die Aufgabe war eine Übung aus dem Physikunterricht meiner Tochter zur Vertiefung der Gesetze der Kreisbewegung. Die nähere Beschäftigung damit hat mir gezeigt, dass modellhafte Vereinfachungen manchmal zu überraschenden Ergebnnissen führen können.

Die Aufgabe geht so:
Ein Auto fahre mit konstanter Geschwindigkeit v über einen Brückenbogen, der die Form eines Kreisausschnitts des Radius r hat.
Wie schnell darf das Auto höchstens fahren, um nicht abzuheben?

Der beabsichtigste Übungszweck war natürlich, dass die Schüler erkennen sollten, dass das Auto abhebt, sobald die Zentrifugalkraft FZ größer ist als die Gewichtskraft Fg, die gesuchte Geschwindigkeit also diejenige ist, bei der die Kräfte genau gleich groß sind:
FZ = Fg
m · v² / r = m · g
v = √(g · r)

Soweit das, was in der Physik-Hausaufgabe verlangt war.
Als meine Tochter mir davon erzählte, habe ich mir folgende Gedanken gemacht:
Wenn das Fahrzeug von der Fahrbahn abhebt, wird es von da an einer parabelförmigen Flugbahn folgen.
Im Punkt des Abhebens muss die Tangente an den Brücken-Kreisbogen gleich der Tangente an die Parabel sein, weil es keine plötzlich einwirkende Kraft gibt, die einen Knick in der Bahnkurve erzeugen könnte.
Liegt die Parabel tatsächlich vollständig außerhalb des Brücken-Kreisbogens oder schlägt das Auto wieder auf der Brücke auf?
Falls ja, wie schnell müsste es fahren, um den Rest der Brücke im Flug zu überqueren?
Ein Problem, das sich wunderbar mit Geogebra lösen lässt!

Gesagt getan.
Unten sehen Sie das Ergebnis meiner Bemühungen:
In grün den Brückenbogen, der eine Strecke von 100 m zwischen dem Anfangspunkt A und dem Endpunkt E überspannt. Die x-Achse sei der Erdboden.
Die Höhe h der Brücke und damit der Radius r des Kreises lassen sich mit einem Schieberegler einstellen.
In blau eingezeichnet sehen Sie die Flugparabel des Autos, der es folgte, wenn die Brücke an der aktuellen Position endete. (Da es hier nicht um den schiefen Wurf geht, sei zur Herleitung der Formel für diese Parabel auf die entsprechende Wikipedia-Seite verwiesen.)
Sobald diese blaue Linie oberhalb des grünen Brückenbogens liegt, hebt das Auto ab.
Mit dem Schieberegler für v können Sie die (Bahn-)Geschwindigkeit des Autos in m/s einstellen. Der rote Pfeil, der von der Position des Autos ausgeht, zeigt Betrag und Richtung der momentanen Geschwindigkeit.
Mit dem Schieberegler für α stellen Sie die Position des Autos auf der Brücke zwischen Anfangspunkt A und Scheitelpunkt S als Winkel ein.

Rechts neben den Schiebereglern wird der sich aus der eingestellten Brückenhöhe ergebende Kreisradius ausgegeben ein Kräfteverhältnis, auf das ich unter dem Geogebra-Fenster noch näher eingehe.

Tatsächlich lässt sich das Rechenergebnis bestätigen: Wenn wir eine Höhe von h = 20 m und damit einen Kreisradius von r = 72,5 m einstellen, müsste gemäß obiger Formel die Fluchtgeschwindigkeit bei v = √(9,81 m/s² · 72,5 m) = 26,7 m/s liegen. Stellen wir diesen bzw. wegen der Abstufung des Schiebereglers einen geringfügig größeren Wert für v ein und bewegen das Auto zum Scheitelpunkt S (α = 90°), so sehen wir, dass die Parabel geringfügig über dem Kreisbogen liegt.



Kommen wir nun zum eingangs angesprochenen überraschenden Ergebnis durch vereinfachte Modelle:
Stellen Sie (z.B. durch Klick auf unten stehende Schaltfläche) doch nun einmal bei ansonsten gleichbleibenden Größen einen Winkel von α=50° ein und betrachten Sie den Verlauf der Flugbahn durch Einstellen eines größeren Zoomfaktors genauer!



Auch hier liegt die Flugbahn oberhalb des Brücken-Kreisbogens!
Warum?
Widerspricht das nicht unserer Intuition?
Würde ein Auto wirklich schon zu Beginn der Brücke abheben können?
Wir würden doch erwarten, dass es erst dann abheben kann, wenn der Boden sozusagen wieder zurückweicht, die Fahrbahnhöhe wieder abnimmt, also im Scheitelpunkt S!?
Die dieser Vorstellung zu Grunde liegenden Gesetzmäßigkeiten entstammen zunächst einmal nicht der Kreisbewegung sondern den Wurfgesetzen. Reale Brückenfahrbahnen haben in aller Regel eine so geringe Wölbung, dass die Zentrifugalkraft eine untergeordnete Rolle spielt.
Der wesentlichere Punkt, in dem unser Modell von der Realität abweicht, ist die Annahme einer konstanten Geschwindigkeit des Fahrzeugs: Im ansteigenden Teil der Brücke wird in der Realität nur eine geringere Geschwindigkeit möglich sein als im Scheitelpunkt.
Nichtsdestotrotz zeigt die Betrachtung, dass unter den angenommenen Bedingungen ein Fahrzeug - entgegen der Intuition - nicht erst am Scheitelpunkt sondern bereits früher abheben wird.

Was bedeutet das für unsere Rechenaufgabe?
Was haben wir falsch gemacht?
Wir haben ja gesehen, dass das Ergebnis falsch ist: Es gibt eine geringere Geschwindigkeit, bei der das Auto bereits abhebt als die, bei der es im Scheitelpunkt abhebt, und die hätten wir dem Wortlaut der Aufgabe nach berechnen müssen.
Dafür hätten wir den Vektor-Charakter von Kräften und Geschwindigkeiten berücksichtigen müssen: Sie haben nicht nur eine "Größe", einen "Betrag" sondern auch eine Richtung.
Das Auto hebt genau dann von der Fahrbahn ab, wenn der senkrecht auf der Fahrbahn (bzw. der Tangente daran) stehende Anteil der Gewichtskraft kleiner wird als die Zentrifugalkraft, denn nur dieser Teil wirkt der Zentrifugalkraft entgegen.
Dieser Anteil Fg, ∥ Z berechnet sich aus der Gewichtskraft über den Sinus des Winkels α:
Fg, ∥ Z = Fg · sin(α)
Im Geogebrafenster wird das jeweilige Verhältnis von Zentrifugalkraft und zu ihr paralleler Gewichtskraftkomponente berechnet. Wird es größer als 100%, hebt das Auto ab.

Für den Scheitelpunkt S stimmte unsere anfängliche Rechnung trotzdem, weil beim zugehörigen Winkel von α=90° sin(α)=1 wird.

Noch anschaulicher wird das Problem, wenn wir die Höhe der Brücke so drastisch vergrößern, dass ein Halbkreisbogen entsteht.
Wir sehen, dass das Auto dann schon bei sehr kleinen Winkeln abhebt, was durch den geringen Gewichtskraftanteil zu erklären ist, der es auf der fast senkrechten Fahrbahn hält. In der Realität wäre es natürlich sehr schwierig, bei dieser Steigung überhaupt voranzukommen geschweige denn die angenommene konstante Geschwindigkeit zu erreichen.


Michael Janßen, 25. Juli 2011, Erstellt mit GeoGebra

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