GeoGebra im Regenbogen
 

 Trost und Moral in der Mathematik

In "Humor in der Mathematik" (5. Auflage, Seite 18) habe ich folgende Aufgabe von Franz Rellich gefunden:

Ein Student geht auf der Weender Straße in Göttingen hinter einem Mädchen mit auffallend schönen Beinen her.
Frage: In welcher Entfernung muss der Student hinter dem Mädchen hergehen, um die Beine, so weit sie unter dem Rock hervorschauen, unter dem größtmöglichen Blickwinkel zu sehen?
Die Höhe des Rocksaumes über dem Erdboden sei dabei 60cm und die Augenhöhe des Studenten 178cm.

Rellich pflegte hinzuzufügen: Der Trost dabei ist, dass die gesuchte Entfernung nicht unendlich ist, und die Moral, dass sie nicht Null ist.

Die Aufgabe stammt aus einer Zeit, als es noch völlig unverfänglich war und sogar als humorvoll galt, die Wirkung weiblicher Reize auf Mathematikstudenten zum Gegenstand von Rechenübungen zu machen.
Heute befürchte ich bitterböse Kommentare und versichere deswegen vorsorglich, dass es mir keineswegs darum geht, Frauen als Sexobjekt zu erniedrigen oder sonst in irgendeiner Weise zu diskriminieren.
Ich zitiere diese Aufgabe ausschließlich aus mathematikhistorischem Interesse und weil mich ihre Lösung interessiert. Außerdem finde ich, dass sie trotz aller feministischen Gegenbemühungen die männliche Interessenlage recht wirklichkeitsnah widerspiegelt, und für die Akzeptanz mathematischer Übungen ist ein Realitätsbezug nun einmal sehr wichtig.
Trotz der mit einem einfachen Satz zu definierenden Problemstellung beinhaltet der Lösungsweg gute Übungen zur Trigonometrie und zur Kurvendiskussion.

Vorstehenden Text und nachstehende zwei Lösungswege habe ich vor 12 Jahren hier präsentiert.
Inzwischen habe ich eine mathematisch völlig äquivalente Aufgabenstellung gefunden, die aber ein ganz anderes Problem der realen Welt beschreibt:

Ein Fußballspieler möchte von der Seitenlinie aus auf das gegnerische Tor schießen.
Der Winkel, unter dem er dabei das Tor sieht, soll möglichst groß sein, weil das die Trefferchance erhöht.
In welcher Entfernung von der Eckfahne muss er schießen?
Das Fußballfeld sei 68 m breit und die Torpfosten stehen 7,32 m voneinander entfernt.

Zugegeben: Auch diese Problemstellung beschäftigt sich mit eher männlichen Interessenlagen.
Sie findet sich im Buch von Pierre Berloquin "Garten der Sphinx" (Nr. 57) und wird auch im Rätsel der Woche vom 01.01.2023 bei Spiegel online zitiert.
Ich führe es hier aus zwei Gründen nochmals auf: Zum einen finde ich es faszinierend, welch unterschiedliche Fragestellungen zu exakt gleichen mathematischen Aufgaben führen können. Zum anderen ist der beim Rätsel angegebene Lösungsweg höchst elegant! Er argumentiert mit dem Peripheriewinkelsatz und braucht dann nur noch den Satz des Pythagoras zur Berechnung der Lösung!

Kommen wir aber zunächst zur Lösung der erstgenannten Aufgabe, wie ich sie schon vor zwölf Jahren hier beschrieben hatte:

Da sowohl die Durchschnittsgröße der Studenten als auch die Rocksaumhöhen von Mädchen mit hübschen Beinen seit der Entstehungszeit dieser Aufgabe gewachsen sind, lassen sich In der unten stehenden Geogebra-Anwendung beide Parameter mit Hilfe von Schiebereglern variieren.
Außerdem kann man auf diese Weise den Einfluss dieser beiden Größen studieren.
Die Darstellung geht davon aus, dass sich der Student bei x=0 befindet und das Mädchen bei der pinkfarbenen senkrechten Linie.
Der Abstand der beiden lässt sich mit dem Schieberegler "Entfernung" einstellen oder durch Klick auf die kleine Schaltflläche unten links als Animation automatisch variieren.
Bei Veränderung des Abstands hinterlässt der rote Punkt eine Spur, die über alle eingenommenen Abstandswerte (x-Achse) den Blickwinkel im Bogenmaß nach oben abträgt, so dass man das Maximum leicht identifizieren kann.

Um alle Spitzfindigkeiten im Keim zu ersticken, muss wohl noch erwähnt werden, dass der horizontale Abstand des Rocksaums von den Beinen vernachlässigt wird, was auch zu der extrem magersüchtigen Darstellung des Mädchens als Linie passt.


Nach dieser Veranschaulichung des Problems wollen wir es nun analytisch mit Hilfe der Analysis lösen:
Rechnungen mit Winkeln sind immer dann besonders einfach, wenn diese zu rechtwinkligen Dreiecken gehören.
Unmittelbar trifft diese Aussage für den Blickwinkel nicht zu, aber er lässt sich als Differenz zweier Winkel ausdrücken, zu denen man die folgenden rechtwinkligen Dreiecke finden kann:
Im einen Fall des grünen Dreiecks ist die Hypothenuse die Verbindungslinie Augen - Rocksaum, im Fall des blauen Dreiecks die Verbindungslinie Augen - Füße des Mädchens.
Eine Kathete ist in beiden Fällen die Entfernung.
Die zweite ist beim blauen Dreieck die Augenhöhe, beim grünen ist es die Differenz aus Augen- und Rocksaumhöhe.
(Klicken Sie jeweils auf die Links, um die Erläuterungen in der Geogebra-Anwendung zu veranschaulichen! Javascript muss dazu aktiviert sein.)
In beiden Dreiecken sind beide Katheten bekannt, so dass sich die Winkel mit Hilfe der Arkustangens-Funktion berechnen lassen.
Der Blickwinkel ergibt sich dann zu:

Blickwinkel = arctan ( Entfernung / ( Augenhöhe − Rocksaumhöhe ) ) − arctan ( Entfernung / Augenhöhe )

Klicken Sie hier, um den Funktionsgrafen und sein Maximum einzublenden!
Variieren Sie die Parameter, um ihren Einfluss auf die Lage des Maximums zu erkennen!

Zu dieser Funktion muss man nun das Maximum finden, indem man die Ableitung berechnet und deren Nullstellen findet. Das erledigt entweder Geogebra oder man berechnet die Nullstellen der Ableitung wie folgt:

Die Ableitung der Arkustangensfunktion ist:

Ableitung der arctan-Funktion

In unserem Beispiel ist die Entfernung die unabhängige Variable x und der Blickwinkel wird als Funktionswert y berechnet, so dass obige Formel mit x und y geschrieben etwas vertrauter so aussieht:

Blickwinkelfunktion

Beim Ableiten dieser Funktion kommt die Summenregel (alle Summanden werden separat abgeleitet) und die Kettenregel (Multiplikation der äußeren mit der inneren Ableitung) zum Einsatz und man erhält:

Ableitung der Blickwinkelfunktion

Zur Vereinfachung umgeformt:

Ableitung der Blickwinkelfunktion, vereinfacht

Die Funktionswerte dieser Ableitung sind die Steigung der Tangente an die Blickwinkelfunktion an der Stelle x. Das Maximum des Blickwinkels, das wir ja suchen, zeichnet sich dadurch aus, dass die Tangente dort horizontal verläuft, ihre Steigung dort also Null ist. Um es zu finden, setzen wir deshalb die Ableitungsfunktion gleich Null, lösen nach x auf und erhalten alle Stellen, an denen sich ein Maximum des Blickwinkels befinden kann:

Ableitung der Blickwinkelfunktion Null gesetzt und nach x aufgelöst

Setzt man die Werte aus der Aufgabenstellung für die Augenhöhe a = 1,78 m und für die Rocksaumhöhe r = 0,6 m ein, erhält man x = ± 1,449 m.
Der negative Wert ist in diesem Zusammenhang nicht sinnvoll, weil der Student kein Janus ist und nur in die positiv definierte Richtung blickt.
Kontrollieren wir das Ergebnis in Geogebra!

Nun soll die Frage mit dem Blickwinkel auf das Fußballtor gelöst werden!
Dazu stellen wir folgende Überlegungen an, die sich an unten stehender Geogebra-Grafik leicht nachvollziehen lassen:
Auf dieser Geogebra-Seite können Sie auch verschiedene Winkel darstellen.
Die Torpfosten sind mit P1 und P2 gekennzeichnet. Der Ursprung des Koordinatensystems ist die Position der Eckfahne.

Berechnung des Sichtwinkels mittels Peripheriewinkelsatz und Pythagoras

Steht der Spieler an der Eckfahne, beträgt der Öffnungswinkel 0°, denn die beiden Pfosten stehen aus seiner Sicht in einer Linie hintereinander.
Entfernt er sich entlang der Seitenlinie von der Eckfahne, wird der Sichtwinkel zunächst größer, aber ab einem bestimmten Punkt verkleinert er sich wegen der zunehmenden Entfernung.

Wir denken uns nun einen Kreis durch die beiden Torpfosten und die Position des Spielers auf der Seitenlinie.
Durch die drei Punkte ist der Kreis eindeutig bestimmt und sein Mittelpunkt liegt auf der Mittelsenkrechten der Verbindungslinien je zweier Punkte.
Eine dieser Verbindungslinien ist die Torlinie.

Der Winkel, den wir maximieren wollen (in der Grafik α, der mit den roten Schenkeln), ist ein sogenannter Peripheriewinkel.
Dazu tragen wir den zugehörigen sogenannten Mittelpunktswinkel ein, der die beiden Torpfosten mit dem Mittelpunkt des Kreises verbindet (µ mit den grünen Schenkeln).
Der Peripheriewinkelsatz besagt, dass der Mittelpunktswinkel µ immer genau doppelt so groß ist wie der Peripheriewinkel α.
Daraus folgt unmittelbar, dass wir α maximieren können, indem wir µ maximieren.
Da der Abstand zwischen den Torpfosten gleich bleibt, wird der Mittelpunktswinkel µ umso größer, je kleiner der Kreis ist.
Den größtmöglichen Wert von 180° würde er erreichen, wenn sich der Mittelpunkt genau zwischen den Pfosten befände.
Das geht aber nicht, weil der dritte Punkt auf der Kreislinie ja auch auf der Seitenlinie liegen muss.
Der kleinstmögliche Kreis (und damit der größtmögliche Mittelpunktswinkel), den wir unter dieser Randbedingung erreichen können, ist derjenige, der die Seitenlinie nur berührt statt sie zu schneiden.

Bleibt nur noch die Frage, bei welcher Entfernung von der Eckfahne X (in der Grafik blau eingezeichnet) diese Bedingung erfüllt ist!?
Um dieseFrage zu beantworten, brauchen wir nur noch den Satz des Pythagoras, denn X bildet mit der halben Torbreite t und dem einen Schenkel des Mittelpunktswinkels (grün) ein rechtwinkliges Dreieck.
Die Torbreite t ist gegeben und der Schenkel des Mittelpunktswinkels entspricht genau dem Kreisradius r.
Den kennen wir aber, weil wir wissen, dass sich der Kreismittelpunkt genau auf der halben Spielfeldbreite befindet. (Wir gehen davon aus, dass das Tor in der Mitte steht!)
Außerdem soll der Kreis die Seitenline gerade berühren. Deswegen entspricht der Kreisradius der halben Spielfeldbreite, die ebenfalls gegeben ist.

Damit ergibt sich nach dem Satz des Pythagoras mit t/2 = 7,32 m / 2 = 3,66 m und r = 34 m für X:

X = sqrt(r² - (t/2)²) = 33,8 m

Besondere Punkte im Dreieck Abheben von Brücken